Täglich werden in Indien Frauen vergewaltigt, manchmal mit tödlichen Folgen. Lange haben die Familien aus Scham geschwiegen, der Staat reagierte mit Gleichgültigkeit. Das ändert sich jetzt.
Wer in Indien lebt, liest täglich von Vergewaltigungen. Die Nachricht von den grässlichsten erreicht auch den Westen, oft zusammen mit dem unfassbaren Kommentar irgendeines Ministers, dass solche Taten “versehentlich” geschähen oder “manchmal richtig, manchmal falsch” seien. So gesagt vor ein paar Tagen, nachdem zwei minderjährige Mädchen in einem nordindischen Dorf wahrscheinlich von einer Gruppe von Männern vergewaltigt und anschließend an einem Mangobaum erhängt wurden.
Vieles an dem Fall bleibt unklar, aber mehrere Polizisten wurden wegen Tatenlosigkeit und sogar möglicher Verwicklung suspendiert oder festgenommen. Dass der Staat sich erst einmal gleichgültig zeigt, wenn die Opfer, wie hier, aus den unteren Kasten der hinduistischen Religions- und Sozialordnung stammen, muss schon fast als normal gelten.
Die sexuelle Gewalt wirkt wie das dauernde Dementi von allem, was das Land in der Welt populär gemacht hat: Gandhis Pazifismus, der kultivierte Sex des Kamasutra, die Romantik von Bollywood. Es ist eine Schande – und ein Rätsel. Wie kann man begreifen, was zwischen Männern und Frauen in Indien auf so schockierende Weise nicht stimmt? Kann man es begreifen?
Hinter der Gewalt
Ob Vergewaltigungen in Indien häufiger sind als in anderen Ländern, ist schwer zu sagen. Die offizielle Statistik spricht dagegen. Allerdings liegt die Dunkelziffer möglicherweise deutlich höher als anderswo – wegen der besonderen “Schande”, die eine vergewaltigte Frau in den Augen der Gesellschaft zu tragen hat, und die sie zum Schweigen anhält. Definitiv indisch ist die Neigung von Politikern, das Problem zu leugnen oder zu verharmlosen, nach dem Motto: So sind Jungs nun mal. Oder: Das Fernsehen ist schuld. Oder: Warum müssen Mädchen auch nach acht Uhr abends noch auf der Straße sein?
Indische Polizisten und Ärzte begegnen den Opfern sexueller Gewalt oft mit Desinteresse oder gar Geringschätzung. Noch wichtiger jedoch: Die sexuelle Brutalität ist Teil einer viel tiefer reichenden Kultur der Frauenbenachteiligung, wenn nicht Frauenunterdrückung.
Hinter der Gewalt, sagt die Juristin Vrinda Grover, steht die Ungleichheit, und solange die Ungleichheit als normal gilt, wird die Gewalt nicht nachlassen. Die Menschenrechtsanwältin hat mit dafür gesorgt, dass nach der weltweit schockierenden Vergewaltigung einer 23-Jährigen in einem Bus in Delhi im Dezember 2012 die indischen Gesetze zu sexueller Gewalt und Belästigung verschärft wurden. Das US-Magazin Time nahm sie dafür 2013 in seine internationale Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten auf.
“Der untergeordnete Status von Frauen”, so Grover, “wird bei uns kulturell nicht nur gebilligt, er ist erwünscht.” Sie nennt das Beispiel von Gerichtsurteilen, die es Männern erlauben, den Bewegungsradius ihrer Frauen einzuschränken – ihnen etwa zu verbieten, ihre Verwandten zu besuchen. Das ist klar verfassungswidrig; Frauen in Indien genießen denselben Anspruch auf Bewegungsfreiheit wie Männer. Aber für die Richter, erklärt Grover, geht die Institution von Ehe und Familie vor, und die individuellen Rechte der Frau müssen dahinter zurückstehen.
Die Richter, die solche Urteile fällen (und die Ehemänner, die von ihnen profitieren), sind wahrscheinlich aufrichtig entsetzt, wenn sie in der Zeitung lesen, dass wieder irgendwo ein minderjähriges Mädchen aufgefunden wurde, missbraucht und ermordet, mit von Säure verätztem Gesicht, damit man sie nicht identifizieren kann. Bei spektakulären Grausamkeiten springen das öffentliche Bewusstsein und das Rechtssystem an; die Täter werden dann zu harten, exemplarischen Strafen verurteilt.
Aber der Zusammenhang zwischen diesen Scheußlichkeiten und der alltäglichen Realität von Frauen als Menschen zweiter Klasse wird nicht hergestellt; der männliche indische Mainstream-Konservativismus sieht nicht, was das eine mit dem andern zu tun haben könnte. Für Vrinda Grover ist es dagegen unvermeidlich, dass Ungleichheit mit Gewalt einhergeht: “Niedriggestellte werden immer auch durch Gewalt kontrolliert; von Zeit zu Zeit kommt sie zur Anwendung.”
Die Gewalt zeigt denen da unten, wo ihr Platz ist. Am schlimmsten erleben es Frauen, die den niederen Kasten angehören. Jene, die zur Gruppe der Dalits, der jahrtausendelang als rechtlos behandelten “Unberührbaren” gehören, sind weit überproportional unter den Vergewaltigungsopfern vertreten.
Wie denken die Täter?
Was sind es für Männer, die in Indien sexuell gewalttätig werden? Rajat Mitra hat zwölf Jahre lang als Kriminalpsychologe mit Vergewaltigern in der Untersuchungshaft und im Gefängnis ausführliche Gespräche geführt und ist vor Gericht als Sachverständiger aufgetreten. Es fehlt den Tätern, stellt er fest, in der Regel an Schuldgefühlen und an Scham über ihre Tat: “Sie wird nicht als Verbrechen gesehen.”
Vergewaltigung ist, anders als viele meinen, meist kein impulsiver Akt, sondern geplant und auf Wiederholung angelegt. Die Männer, mit denen Mitra sprach, waren oft erst nach ihrer dritten oder vierten Vergewaltigung festgenommen worden; das Gefühl, sie würden schon durchkommen, hatte sie zunehmend verwegen gemacht: “Sie waren überrascht, gefasst und bestraft zu werden.”